Als „Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie“ (IMST) wird die gleichzeitige und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte Behandlung bezeichnet, in der verschiedene somatische, körperlich und psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan mit unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind.
Das Rückenzentrum Am Michel (RZAM) betreibt die Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie (IMST) schon seit den Gründungszeiten des Zentrums im Jahr 2001. Nicht zuletzt genau deshalb sind die Kolleginnen und Kollegen dieser Gesundheitseinrichtung gefragte Referierende auf nationalen Kongressen verschiedener Fachgesellschaften. So auch im vergangenen November auf der Jahrestagung der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft im CCH in Hamburg.
Dr. Joachim Mallwitz und Dr. Michael Richter waren eingeladen, um einen Vortrag zum Thema 20 Jahre IMST – Lessons learned zu referieren. Der Rückblick soll hier kurz dargestellt werden und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen Einblick auf das ermöglichen, was wir (naja alles kann wohl nicht abgebildet werden) als Erfahrung aus der Praxis mitgenommen haben.
Bevor es losgeht, nochmal kurz zur Definition der IMST [1] – bei Personen mit persistierenden Schmerzen am Bewegungsapparat gibt es einen Versorgungsgoldstandard. Der Begriff Goldstandard ist sicherlich mutig, ABER genau richtig, denn es handelt sich bei dieser Therapieform um die beste zur Verfügung stehende Behandlungsform, wenn weniger intensive Interventionen nicht zu einer Linderung der Beschwerden geführt haben oder aber Begleitprobleme auftreten, die die Persistenz der Beschwerden fördern u.a. Angst, Stress, negative Gedanken. Wenn es nun einen solchen Goldstandard gibt, dann würde man erwarten, dass dieser auch bei den betroffenen Personen ankommt – dem ist leider nicht so und die Versorgung dieser Klientel ist in Deutschland bedeutend defizitär, worauf die Deutsche Schmerzgesellschaft seit Jahren hinweist (siehe auch hier bzgl. einer relativ neuen Pressemitteilung).
Die Definition besagt, dass bei einer IMST alle beteiligten Berufsgruppen in enger Zusammenarbeit zusammenwirken und im besten Interesse des individuellen Patienten agieren. Dafür sollten die Disziplinen regelmäßig miteinander sprechen UND sich auf Augenhöhe begegnen. Dies klingt logisch, aber in der Realität kommt es selten vor – umso bedeutender sind Einrichtungen wie das RZAM, die es einfach machen – patientenzentriert und mit Leidenschaft. Und das mit Erfolg seit 2001.

Eigenlob stinkt? Ja – kann sein aber es riecht angenehm hanseatisch mit einer Extraportion Bestätigung aus der Wissenschaft! Die motivierte Leserin kann hier [2] nochmal nachschmökern, was denn Personen mit anhaltenden Beschwerden (OHNE eindeutige, strukturelle Ursache – „das sind zufällig die meisten Betroffenen mit Rückenschmerz!!!!!“) so brauchen oder hier etwas aus unserem Hause! Nun – was haben wir denn gelernt in so vielen Jahren klinischer Patient*innen-Versorgung?
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Strukturbefunde relativieren –
mehr als wir dachten!
Betroffene Personen mit anhaltenden Beschwerden am Bewegungsapparat dürfen mutig sein und sich wesentlich mehr belasten, als wir vor Jahrzehnten noch dachten. Nun haben wir mit eigenen Augen erlebt, dass relevante Strukturbefunde z.B. ein Bandscheibenvorfall, eine Arthrose oder Nervenreizung und viele weitere Befunde NICHT ausreichen, um einer Person zu empfehlen, sich zu schonen oder sich körperlich zurückzuziehen.
Im Gegenteil – Motion is Lotion (wie die Australier sagen!): Bewegung ist Balsam – auf die Dosierung kommt es an. Nicht bewegen ist schädlich UND unnötig – nicht nur bei Rückenschmerzen!
Wenn sich Betroffene mehr bewegen, resultiert ein Kontrollgefühl – nicht zuletzt haben viele Menschen mit chronischen Schmerzen regelmäßige Bewegung vermieden. Eine IMST schafft diese Brücke – die Zurückführung von Schmerzbetroffenen in ein aktives Leben und wenn wir vor ca. 20 Jahren noch dachten, hier und da macht es Sinn vorsichtig zu sein, so wissen wir heute: FAST IMMER ist alles erlaubt. Um die Ausnahmen, die die Regel bestätigen herauszufinden, beginnt jede IMST immer mit einer interdisziplinären Diagnostik! Ein Team von verschiedenen Professionen nimmt sich Zeit für Sie, um im klinischen Entscheidungsprozess professionelle und gültige Empfehlungen aussprechen zu können.
Es ist immer wieder beeindruckend – unzählige Studien belegen, dass Veränderungen an unseren Gelenken, Knochen, Bändern, Bandscheiben usw. NICHT notwendiger Weise Beschwerden auslösen müssen. Für eine vertiefende Leseerfahrung schauen Sie hier (Tab. 2), wie sich die Lendenwirbelsäule verändern kann, OHNE dass es wehtut. Somit dürfen wir Therapierende bei Betroffenen mutig und selbstbewusst sagen: „Sie dürfen sich nicht nur bewegen, NEIN – Sie müssen sich bewegen!“
Die Kernziele einer IMST sind: •Alltagstätigkeiten wiederaufnehmen •Arbeitsfähigkeit wiederherstellen und Arbeitsaufnahme fördern •Körperliche Schwächen abbauen •Bewegungsangst verringern •Risikoverhalten verändern (z. B. Schonverhalten, Durchhalteverhalten) •zu gesundheitssportlicher Aktivität im Alltag hinführen
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Kommunikation beachten!
Kommunikation spielt im Schmerzmanagement eine entscheidende Rolle. Versorgende müssen sich davor hüten, reduktionistische Erklärungsmodelle für ein komplexes Schmerzerlebnis zu benutzen. „Ihr Becken steht schief“ oder „der Muskel ist verspannt“ – die Erklärungen sind zwar nachvollziehbar, aber werden einem modernen Schmerzmanagement keinesfalls gerecht. Im Gegenteil – Hoffnung wird geschürt: Wenn der Muskel entspannt und mein Becken gerichtet ist, bin ich wieder schmerzfrei. Enttäuschung vorprogrammiert.
Aber auch die konkreten Worte, die Betroffene und Versorgende wählen, spielen eine wichtige Rolle: Höllisch, brennend, reißend, einschießend, explosionsartig usw. sind Begriffe, die die Schmerzwahrnehmung befeuern. Im Umgang mit Patientinnen und Patienten müssen wir akzeptieren, dass es auch Sinn macht, die Sprache und Wortwahl „aufzuräumen“. Dies bedeutet nicht, dass z.B. fluchen verboten ist, ABER eine verbale Aufräumarbeit macht aus einer modernen Schmerzmanagement-Perspektive Sinn und ist notwendig.
Im Rahmen einer IMST streben wir selbstverständlich eine Patient*innen-zentrierte Kommunikation auf Augenhöhe an und kultivieren Empathie und Einfühlsamkeit in höchstem Maße, ABER das Thema Schmerz wird dabei auf eine gesunde Art und Weise umschifft. Wir unterstützen dabei, den Schmerz „aus dem Kopf zu bekommen“.
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Schmerz ist Schutz
Auf den Punkt – Schmerz resultiert aus dem Bedürfnis nach Schutz (von körperlichem Gewebe). Wenn etwas verletzt ist, dann sollte es weh tun – dadurch schonen wir es, belasten es weniger und zack: Alles wird wieder gut! Dieser super-clevere Schutzmechanismus ist eine Schlussfolgerung des Gehirns auf empfundene Bedrohung (der Überlebensfähigkeit). Nun ist leider das Dilemma – unser Nervensystem ist plastisch, kann sich optimal anpassen und lernen. Je länger das Gehirn die unangenehme Sinneswahrnehmung Schmerz produziert, je besser wird es darin. Ein einprägendes Beispiel:
Sie haben Rückenschmerzen und erhalten die Information: „Die Bandscheiben sind kaputt und wenn das noch schlimmer wird, dann sitzen Sie bald im Rollstuhl“ – warum sollte das Gehirn (das unser Überleben sichert und mega-clever ist!) jemals aufhören, Schmerz als Schutz zu produzieren, wenn wir diesen Informationsvirus im Kopf haben?
Schmerzen verstehen ist ein Schlüssel in der Bewältigung von Schmerzen und das haben wir vor 20 Jahren geahnt, im Verlauf verstanden und mittlerweile seit Jahren umgesetzt.
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Alltagstraining
Das Alltagstraining ist genau das, was das Wort aussagt. Training von Alltagsfunktionen – Bücken, Drehen, Heben, Tragen, Schieben, Streichen, Packen usw. Früher waren wir der Überzeugung, dass diese Funktionen 100% individualisiert mit den Betroffenen geübt werden müssen. Heute ist es einfacher – wir machen mit allen alles! Nicht ganz so plump, aber so ungefähr. Die Individualisierung geschieht über Kommunikation, Zielsetzung und Reflexion im Gruppen- und Teamkontext. Warum Alltagstraining überhaupt wichtig ist – das möchte ich Ihnen erklären: Wir empfinden Behinderung/Einschränkung von Funktion im Alltag, wenn wir Dinge des Alltags nicht mehr machen können. Hieraus resultierten weniger Lebensqualität, mehr Rückzug und Vermeidung und nicht zuletzt eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe. Diese relevanten Faktoren motivieren uns täglich, gemeinsam mit unseren Patient*innen Lösungen zu erarbeiten, sich „die Funktion zurückzuholen“ – das Training von Alltagsfunktionen ist dabei der Schlüssel und diesen halten wir heutzutage wesentlich einfacher, als wir es vor Jahren noch getan haben.
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Stabilisation
Viele Jahre haben wir a.) kommuniziert, dass die Wirbelsäule stabilisiert werden muss und b.) praktiziert, dies über kleine, feine und hochspezialisierte Übungen zu tun. Heute verstehen wir, dass dieser Ansatz nicht falsch ist, aber müssen akzeptieren, dass jede Form von Bewegung von übergeordneter Bedeutung im Schmerzmanagement ist und dass die Kommunikation von „fehlender Stabilität“ die unter Punkt 2 dargestellten Fettnäpfchen beinhaltet. In der IMST werden die Betroffenen zu Trainingsexperten gemacht – hierzu schulen wir, dass es wichtig ist, sämtliche Grundeigenschaften unseres menschlichen Körpers zu trainieren (z.B. Ausdauer, Kraft, Koordination) und NICHT nur die Stabilität der Wirbelsäule. Dies ist zu simplifizierend; denn nur eine top Funktion der Wirbelsäulen-stabilisierenden Muskulatur kann nicht die Lösung sein; sondern nur ein Puzzleteilchen.
Fazit:
In mehr als 20 Jahren IMST-Arbeit hat sich vieles verändert und neben gesellschaftlichen Trends ist auch medizinisches Wissen in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess. Es gibt zahlreiche Dinge, die noch in diesem Beitrag platziert werden könnten, aber die genannten sind erst einmal ausreichend und Kernelemente, die für den Beitrag auf dem Wirbelsäulenkongress ausgewählt wurden.
Als interprofessionelles Team bleiben wir motiviert und interessiert, unser Tun und Handeln stets uptodate zu halten und zu reflektieren – für beste Schmerztherapie durch eine Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie [3].
[1] Siehe auch hier – Was macht eine gute Einrichtung für IMST aus!
[2] Bitte beachten Sie – die aktuelle Leitlinie ist gültig seit 2017 und wird aktuell überarbeitet (im 5 Jahresrhythmus)! Das ist normal und ein Zeichen für den hohen Standard an dieses Dokument!
[3] Die meisten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen sowohl eine interdisziplinäre Diagnostik als auch eine IMST. Im Einzelfall können Sie Ihre Krankenkassen kontaktieren oder aber bei uns nachfragen. Wir helfen gerne weiter.