Gesund oder krank? Alles eine Frage der Einstellung?

von Dr. Kay Niemier

Versucht man Gesundheit zu definieren, stellt man fest, dass dies nicht so einfach ist.
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit wie folgt:

„Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.” = „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“

Folgt man dieser Definition und sieht in jeder Abweichung von diesem Gesundheitsbegriff eine Krankheit, dann ist Gesundheit eher die Ausnahme als die tägliche Realität.
Aber sind die Verspannung am Morgen, die Müdigkeit am Abend, die schlechte Stimmung aufgrund der Fernsehnachrichten oder das Völlegefühl nach dem Essen wirklich Gesundheitsstörungen oder Krankheiten? In der Konsequenz wäre nahezu jeder mehrfach am Tag krank.

Medizinisch stellt sich also die Frage, ob die Bewertung von Symptomen durch den Arzt/Therapeuten, das Internet oder den Patienten selbst krank macht und ob unser Selbstverständnis von Gesundheit am Ende zu vielen gesundheitlichen Störungen führt?

In einer Befragung von australischen Aborigines gaben 80% an, Rückenschmerzen zu haben.

Fotolia_110069472_M.jpg

Relevante Einschränkungen für das Leben, den Alltag oder das allgemeine Wohlbefinden wurden jedoch nicht berichtet. Krank fühlte sich keiner der Befragten. Es bestand ein Symptom ohne Leiden, also keine Krankheit und schon gar keine Notwendigkeit für eine medizinische Intervention.

Das gleiche Symptom (Rückenschmerz) führt hingegen in Deutschland täglich viele Menschen zum Arzt, in die Physiotherapie, es werden Röntgen- und MRT-Bilder angefertigt, Diagnosen gestellt, Medikamente, Spritzen und Operationen angeboten und durchgeführt. So wird aus dem Symptom eine eigenständige Krankheit mit allen Folgeproblemen.

Kann also die eigene und/oder gesellschaftliche Wahrnehmung von an sich normalen Körperäußerungen zu Krankheitszuständen führen, die früher unbekannt waren und in einigen Gesellschaften auch heute noch nicht als krankhaft angesehen werden?

Beispiele „neuer Erkrankungen“ gibt es viele, z.B. die Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrom oder das Restless-Leg-Syndrom, die Menschen mit zum Teil hohem Leiden zum Arzt führen.

Eine andere Herangehensweise an das Problem Krankheit/Gesundheit ist die Betrachtung unseres jeweiligen Zustands als ein kontinuierliches Gleichgewicht zwischen Krankheit und Gesundheit als extreme Endpunkte (siehe Abbildung 1). Wo wir uns gerade befinden, definiert sich jeden Tag neu.

Abb.1 Krankheit - Gesundheits- Kontinuum
Abb.1 Krankheit – Gesundheits- Kontinuum

Es gibt Faktoren, die uns in die eine oder andere Richtung verschieben und es gibt Dinge, die wir beeinflussen können (z.B. Ernährung, Bewegung) und andere, die sich unserem Einfluss entziehen (z.B. Lebensalter, Erbgut). Das heißt, auch wer gesund lebt, kann krank werden bzw. auf der „Achse“ in Richtung Krankheit wandern und umgekehrt. Es gibt Zufälle und Zusammenhänge, die wir nicht beeinflussen können. Die Chancen auf eine bessere Gesundheit steigen jedoch mit einer gesünderen Lebensweise, Garantien gibt es nicht.

Nach dieser Definition sind wir nie 100% krank oder 100% gesund, sondern nähern uns nur einem maximal optimalen oder negativen Zustand an, haben also immer gesunde und kranke Anteile in uns.

Wie wir hier Einfluss nehmen, hängt auch von unseren Werten, Einstellungen und unserer Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit ab.

Wer jedes Symptom als Krankheitszeichen sieht, wird auch schneller krank, wer im Rückenschmerz ein Zeichen für eine aktuelle Überlastung (z.B. Stress bei der Arbeit) oder Bewegungsmangel interpretiert, kann Schritte zur Verbesserung selbst einleiten. Manchmal benötigt man hier Hilfe von Ärzten und Therapeuten. MRT- oder Röntgenbilder, Spritzen, Medikamente, Wunderheilmittel oder Operationen sind in der Regel nicht nötig oder sinnvoll und richten zum Teil mehr Schaden an als sie nützen.

 

Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit.
(Platon griechischer Philosoph * 427 v. Chr.)

Autor: Dr. Kay Niemier

Dr. Kay Niemier gehörte von 2016 bis 2018 zum Team des Rückenzentrum Am Michel. Er ist Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation mit dem Schwerpunkt Schmerztherapie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert