Bandscheiben auf Abwegen

von Dr. Kay Niemier

Das Thema Bandscheiben findet sich fast so häufig wie das Hamburger Wetter in täglichen Gesprächen und bei Google landet man mit einer Suchanfrage bei 792.000 Treffern in 0,45 Sekunden. In der Presse findet man „Höllenschmerzen durch Bandscheibenvorfall. David Beckham muss Viktoria beim Stillen helfen“ bis zu Die Diagnose: Ein akuter, heftiger Bandscheibenvorfall. Am nächsten Morgen kam Rosi (gemeint ist Rosi Mittermaier) unters Messer“.

Die Bandscheibe ist also in unserem alltäglichen Bewusstsein angekommen, wird fast automatisch mit Schmerz verbunden und ruft eine gewisse Panik hervor.

Aber warum sind unsere Bandscheiben auf Abwegen, oder führen wir eine abwegige Diskussion um das falsche Thema?

Rückenschmerzen sind die Volkskrankheit Nummer Eins in Deutschland, aber was hat das mit Bandscheiben zu tun?
Bandscheiben liegen zwischen allen Wirbelkörpern, außer zwischen dem Kopf und dem ersten Halswirbel und zwischen dem ersten und dem zweiten Halswirbel. Bandscheiben ermöglichen die große Beweglichkeit der Wirbelsäule und puffern Stöße, Druck- und Zugbelastungen ab. Eine gesunde Bandscheibe ist eigentlich nicht oder nur durch im Alltag nicht vorkommende Belastungen kaputt zu bekommen. Das Heben einer Bierkiste, bücken, Garten umgraben oder das Tragen eines Holzbalkens, ist für eine gesunde Bandscheibe ein Kinderspiel.

Wieso gerät die Bandscheibe dann so oft auf Abwege?

Eine Bandscheibe kann man sich wie ein Gelkissen vorstellen. Die Gelmasse (Gallertkern) wird von einer festen Bindegewebshülle umgeben. Druck führt zum Verschieben des Gallertkerns innerhalb der Hülle, so dass Lasten effektiv abgepuffert und verteilt werden können. Bandscheiben werden nicht durchblutet, müssen aber als lebendes Gewebe mit Sauerstoff und Energie versorgt und der Abfall (Stoffwechselprodukte) muss entsorgt werden. Gerät die Bandscheibe unter Druck, wird sie ausgequetscht und befreit sich von ihren Abfallprodukten, ist der Druck wieder weg, kann sich die Bandscheibe mit frischen Nährstoffen und Sauerstoff (Gewebeflüssigkeit) vollsaugen. Der Wechsel von Druck und Entlastung sorgt also für eine gesunde Bandscheibe.

Bild Bandscheibe 1
Bandscheibe bei Entlastung

 

 

 

 

 

Bandscheibe unter Belastung
Bandscheibe unter Belastung

Es gibt zwei Situationen, mit der eine Bandscheibe auf Dauer nicht zurecht kommt:

  1. dauerhafter Druck/Belastung
  2. dauerhafte Entlastung

In beiden Fällen fehlt der überlebenswichtige An- und Abtransport von Nährstoffen und Sauerstoff.

Dauerhaftes Sitzen z.B. im Fernsehsessel, im Auto, der Bahn, bei der Arbeit, vor dem Smartphone oder dem Computer sind maximale Stressoren für unsere Bandscheiben. Tut dann der Rücken weh, wird er noch mehr entlastet/geschont. Eine schlecht trainierte Haltemuskulatur (Defizite in Kraft, Kraftausdauer und Koordination) führt ebenso zur Fehlbelastung der Bandscheiben, wie eine dauerhaft erhöhte Muskelspannung bei Stress oder Angst. Die auf diese Weise vorgeschädigte Bandscheibe kann dann bei Bagatellbelastungen auf Abwege geraten und vorfallen (Bandscheibenvorfall).

Doch führt eine Bandscheibe auf Abwegen zwangsläufig zu Schmerzen?
Untersucht man die Wirbelsäulen von Rückengesunden (ohne Schmerzen) mit modernen MRT-Geräten, findet man in der Mehrzahl der Untersuchungen die gleichen Bandscheibenschäden, wie bei den Rückenkranken (mit Schmerzen).

Bei diesem Patienten waren gleich mehrere Bandscheiben auf Abwegen. Seine Beschwerden hatten jedoch muskuläre Ursachen.
Bei diesem Patienten waren gleich mehrere Bandscheiben auf Abwegen. Seine Beschwerden hatten jedoch muskuläre Ursachen.

Anhand der Bilder ist es unmöglich, Rückengesunde von Rückenkranken zu unterscheiden.

Vor den Bildern sitzen die Experten, wie Sie gerade vor dem folgenden Bild

Vintage Red Telephone

und der Frage, ob das Telefon klingelt oder nicht. Sie können die Frage anhand des Bildes nicht beantworten!

Kann eine Bandscheibe wehtun?
Nein, da Bandscheiben nicht mit Schmerz leitenden Nervenfasern (Schmerzfasern) versorgt werden, kann eine Bandscheibe auch keinen Schmerz verursachen.

Aber was tut dann eigentlich weh?
Gerät die Bandscheibe auf Abwege – kommt es also zu einem Bandscheibenvorfall – kann dieser durch Druck auf benachbartes Gewebe Schmerzen verursachen. Dabei ist die Größe des Bandscheibenvorfalls nahezu unwichtig. Bei einer ungünstigen Lage können allerdings selbst kleine Bandscheibenvorfälle oder Vorwölbungen (Hülle um den Gallertkern ist intakt) starke Schmerzen verursachen. Durch Druck auf einen Nerven, kann es zu einem in das Bein oder den Arm ausstrahlenden Schmerz kommen. Typischerweise findet man dann noch andere Zeichen einer Nervenirritation (Taubheitsgefühle, Kribbeln, Muskelschwäche).
Der Patient muss also genau befragt und untersucht werden, das Bild allein, ist wie das Bild vom Telefon nicht hilfreich. Nur wenn alles zusammen passt, kann die Bandscheibe für den Schmerz beschuldigt werden.

Und dann „muss man unters Messer?“
Ist der Schmerz, der durch Bandscheiben verursacht wird, schon selten, muss das Messer noch seltener ran. In den meisten Fällen bildet sich die vorgefallene Bandscheibe zurück. Selbst bei Taubheitsgefühlen und geringfügigen Muskelabschwächungen muss nicht zwangsläufig operiert werden.

Gründe für eine Operation sind:

  • ausgeprägte Lähmungserscheinungen,
  • Taubheit an den Innenseiten beider Oberschenkel,
  • Kontrollverlust über Darm und/oder Harnblase
  • und eine bestehende oder drohende Querschnittslähmung.

In allen anderen Fällen, kann man das Messer erst einmal in der Tasche lassen.

Und was tun, wenn man nicht operiert?
Das Wichtigste ist, die Wirbelsäule zu belasten. Nur so werden die Bandscheiben versorgt und können gesund bleiben oder werden. Die Muskulatur muss unbedingt trainiert werden. Dabei kommt es nicht nur auf Kraft, sondern auch auf die Muskelausdauer und die Abstimmung der Bewegung (Koordination) an.

Was ist mit Schmerzmitteln und Spritzen?
Antientzündlich wirkende Schmerzmittel wie Ibuprofen und Diclofenac sind in der Regel hilfreich. Die Injektion von entzündungshemmenden Medikamenten (Kortison) an die betroffenen Wirbelsäulenabschnitte (PRT, PDI) ist medizinisch umstritten, kann aber manchmal den Schritt zur Bewegung erleichtern.

Was ist also beim Thema Bandscheibe auf Abwegen wirklich wichtig?

  1. Gesunde Bandscheiben sind nicht kaputt zu kriegen
  2. Bandscheiben brauchen Bewegung, Belastung und eine gute Haltemuskulatur, um gesund zu bleiben
  3. Röntgen-, CT- und MRT-Bilder zeigen selten das wahre Problem, dafür viele unwichtige Befunde
  4. Eine Bandscheibe auf Abwegen macht meistens nicht das Problem und muss nur selten operiert werden
  5. Bewegung und Training sind die wichtigsten Therapien bei Bandscheibenschäden.

Kennen Sie schon unseren MRT-Spot?

MRT Spot: Ein MRT ist bei Rückenschmerzen meist nicht notwendig.

Autor: Dr. Kay Niemier

Dr. Kay Niemier gehörte von 2016 bis 2018 zum Team des Rückenzentrum Am Michel. Er ist Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation mit dem Schwerpunkt Schmerztherapie.

5 Gedanken zu „Bandscheiben auf Abwegen“

    1. Hallo Jasmin. Vielen Dank, dass Sie sich auf unserem Blog informieren. Sehen Sie sich gern auch unsere Übungen an, denn Bewegung ist das Beste, was Sie für einen gesunden Rücken machen können. Viele Grüße von Rückhalt.

  1. Ich habe meinen ersten Bandscheibenvorfall und finde auf Ihrer Seite endlich alle Informationen, die ich brauche! Ich habe keine zweite auch nur annähernd so gute Infoseite gefunden wie die Ihre. Vielen Dank!

    1. Wir danken Ihnen für das positive Feedback und freuen uns, Ihnen mit unseren Informationen weitergeholfen zu haben.
      Das genau ist das Ziel dieses Blogs.
      Gute Besserung und viele Grüße vom Rückenzentrum.

  2. Vielen Dank für diesen Blog und die bereitgestellten Informationen. Mir haben sie sehr weitergeholfen. Es ist wichtig bei einem Bandscheibenvorfall auf fundierte Informationen zugreifen zu können.

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